Vorwort. Eine anerkannte Methode für die Darstellung der Dogmengeschichte der mittleren und neueren Zeit giebt es noch nicht. Weder über den Umfang noch über die Behandlung des Stoffs ist man einig, und über das Ziel, welches zu erreichen ist, herrscht vollends die grösste Unklarheit. Zweck und Ziel, Methode und Weg, welche dieses Lehrbuch sich erwählt hat, sind in der Einleitung zum ersten Bande deutlich bezeichnet worden. Ich habe keinen Anlass gefunden, sie in der Ausführung zu verändern. Aber so bestimmt man auch die Aufgabe unserer Disciplin fassen mag- angesichts des ungeheuren theologischen Stoffs, welchen das Mittelalter bietet, und der Unsicherheit über das, was in jener Zeit Dogma gewesen ist, ist die Auswahl an vielen Stellen ein Experiment. Ich darf nicht hoffen, dass das Experiment immer geglückt ist. Nach einer längeren Pause ist es in den letzten zwei Jahren auf dem Gebiete unserer Disciplin sehr lebhaft geworden. Benrath, Hauck, Bonwetsch und Seeberg haben ältere Lehrbücher in neuer Bearbeitung herausgegeben; Loofs hat einen ausgezeichneten Leitfaden der Dogmengeschichte veröffentlicht; Kaftan hat in seinem Werke über die Wahrheit der christlichen Religion einen Abriss der Disciplin geliefert; Möller und Koffmane haben in ihren Darstellungen der alten Kirchengeschichte den dogmengeschichtlichen Abschnitten eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Bei dem Studium dieser Bücher und mancher anderer, die ich mit Dank benutzt habe, habe ich erkennen dürfen, dass meine Bemühungen um den grossen Gegenstand nicht isolirt geblieben sind und nicht fruchtlos waren. Diese Einsicht hat manche Erfahrungen aufgewogen, über welche ich schweigend hinweggehe. Auf die Nachsicht sachkundiger Collegen rechnet dieser Schlussband in höherem Masse als die früheren Bände; denn sein Verfasser gehört weder in Bezug auf die Geschichte der mittelalterlichen Kirche noch in Bezug auf das Reformationszeitalter zu den Specialisten". Allein der Vortheil, welchen der besitzt, der von einer gesicherten Kenntniss des kirchlichen Alterthums zum Mittelalter und zur Reformation fortschreitet, wiegt vielleicht die Mängel einer Darstellung auf, die nicht überall auf einer vollkommenen Induction beruht. Die Quellen zur Geschichte der alten Kirche vermag der Einzelne wirklich zu übersehen; aber in Bezug auf das Mittelalter und die Reformationsgeschichte wird auch ein besserer Kenner, als es der Verfasser dieses Lehrbuchs ist, seine Umsicht nur durch die zutreffendste Auswahl des Stoffs, den er selbständig durchstudirt, bewähren können. Was über Augustin, Anselm, Thomas, das Tridentinum, den Socinianismus und Luther ausgeführt ist, beruht durchweg auf selbständigen Studien. Auch in anderen Partieen wird man solche nicht vermissen; man wird aber auch Abschnitte finden, in welchen die Forschung nicht gefördert, sondern nur ihr gegenwärtiger Stand wiedergegeben ist. Auf die Ausarbeitung eines genauen Registers habe ich sehr viel Zeit verwendet. Möge es dem Gebrauche des Buches zu statten kommen! Diesem selbst aber wünsche ich, dass es an seinem Theile dazu beitrage, die eigentliche Grossmacht in den theologischen Kämpfen der Gegenwart brechen zu helfen - die Unwissenheit. Ueber die Bedeutung der theologischen Wissenschaft für die christliche Frömmigkeit kann man freilich nicht bescheiden genug denken; aber nicht hoch genug kann man ihre Bedeutung veranschlagen in Bezug auf den Ausbau der evangelischen Kirche, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und die Anbahnung jener besseren Zukunft, in welcher, wie einst im zweiten Jahrhundert, der christliche Glaube wieder der Trost der Schwachen und die Stärke der Starken sein wird. Berlin, den 24. Dec. 1889. Adolf Harnack. Inhalt. Die Erweiterung und Umprägung des Dogmas zu einer Erstes Capitel: Geschichtliche Orientirung Augustin die massgebende Autorität bis zur Reforma- tionszeit S. 3. Augustin und das abendländische Christen- thum S. 3. Augustin als Reformator der christlichen Frömmigkeit S. 4. Augustin als Lehrer der Kirche S. 4. Augustin und das Dogma S. 4. Das Dogma im Mittelalter S. 5. Die germanischen und romanischen Völker und das Dogma S. 6. Methode der mittelalter- lichen Dogmengeschichte S. 8. Periodeneintheilung S. 11. Zweites Capitel: Das abendländische Christenthum und die abendländischen Theologen vor Augustin Tertullian als Begründer des abendländischen Christen- thums S. 12. Die Elemente des tertullianischen Christen- thums als Elemente des abendländischen Christenthums überhaupt S. 14 (die lex S. 14, das juristische Element S. 14, das syllogistisch-dialektische S. 15, das psycholo- gische S. 19, das biblisch-praktische S. 20). Eschatologie und Moral S. 21. Die Bedeutung Cyprian's S. 22. Die rö- mische Kirche S. 23. Der Umschwung unter Konstantin; die origenistische Theologie und das Mönchthum werden. in das Abendland importirt S. 24. In Augustin mündet die gräcisirte abendländische Theologie und die altlatei- nische S. 27. Die Bedeutung der Griechenschüler Am- (Cyprian S. 34, der donatistische Streit S. 35, Optatus S. 38, Ambrosius als Lateiner S. 43). Resultate der vor- augustinischen Entwickelung S. 46 (die Lehre des Sym- bols S. 47, der Tod Christi S. 48, die Soteriologie S. 50, die Kirche S. 53). Rom und das Heidenthum S. 53. Drittes Capitel: Die weltgeschichtliche Stellung Augustin's als Reformator der christlichen Fröm- Allgemeine Charakteristik S. 54. Die voraugustinische Frömmigkeit S. 59. Sünde und Gnade die entscheiden- den Factoren bei Augustin S. 61. Die geschichtliche Be- deutung seiner Frömmigkeit S. 64. Kritik dieser Fröm- migkeit S. 66. Die vier Elemente, welche den katho- lischen Charakter der Frömmigkeit constituiren S. 68; 1) die Autorität der Kirche als religiöse Grösse S. 70, 2) die Gnadenmittel S. 74, 3) Glaube, Sündenvergebung und Verdienst S. 77, 4) die pessimistische Betrachtung des Diesseits S. 81. Schlussbetrachtung S. 83. Viertes Capitel: Die weltgeschichtliche Stellung Augustin's als Lehrer der Kirche Das neue dogmatische Schema S. 84. Die Anknüpfung an das Symbol S. 85. Die Spannung zwischen Symbol und hl. Schrift S. 87. Die Spannung zwischen dem Schrift- und dem Heilsprincip S. 88. Die Spannung zwischen der Religion und der Philosophie S. 89. Die Spannung zwischen der Gnadenlehre und der Ecclesiastik S. 90. Die Widersprüche innerhalb derselben Gedankenreihen S. 90. Unmöglichkeit eines augustinischen Systems S. 91. Universelle Wirkung Augustin's S. 91. Methode für die Dar- stellung des Augustinismus ; das Dogma und Augustin S. 92. 1. Augustin's Lehren von den ersten und letzten Dingen Die Theologie und Psychologie Augustin's („Aristoteles alter") ist aus der Frömmigkeit geboren S. 94. Auflösung der antiken Stimmung S. 97. Die psychologische und neuplatonische Betrachtung Gottes und der Seele S. 98. Die mit dieser verflochtene ethische Betrachtung (Gott, Welt, Seele, Wille, Liebe) S. 103. Einfluss des Christ- lich-Kirchlichen S. 111 [über Vernunft, Offenbarung, Glaube und Wissen S. 112]. Die Geltung Christi und die Christologie S. 112. Die letzten Ziele im Jenseits und Diesseits S. 121. Schlussbetrachtung S. 125. 2. Der donatistische Kampf. Das Werk de civitate dei. Die Lehre von der Kirche und den Gnadenmitteln |