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reicht dem Bruder einen Becher Wein, dem das Blut der ermordeten Kinder beigemischt war. Als Thyestes denselben an die Lippen bringen will, versagen die Hände ihren Dienst, in entsetzlicher Aufregung verlangt er nach seinen Söhnen. Da zeigt ihm Atreus die abgeschlagenen Häupter und Hände (764, 1005, 1039). Beim Anblick derselben bricht Thyestes in die berühmten Worte aus: „da erkenne ich den Bruder". Doch hat er das Gräulichste noch nicht vernommen. Als Thyestes die Leiber der Ermordeten zur Beerdigung verlangt, wird ihm die erschütternde Kunde zu teil, dass er sie verzehrt hat.

Das Original. Ueber die Quelle der lateinischen Tragödie ist nicht ins reine zu kommen, da uns kein zweites Stück, welches diesen Stoff behandelt, aus dem Altertum überliefert ist. An griechischen Mustern fehlte es nicht. Sophokles hatte wahrscheinlich zwei Dramen des Namens,Thyestes" geschrieben (Nauck, Tragic. Graec. fragm. p. 146 nr. 227), doch waren hier andere Teile der Sage behandelt (Welcker, Die griech. Tragödien mit Rücksicht auf den epischen Cyklus geordnet, Rhein. Mus. 2. Supplementbd., 1. Abt., 1839, p. 366), ferner hatte er einen Atreus oder die Mykenerinnen (Nauck p. 127 nr. 137) verfasst; Euripides hatte ebenfalls einen Thyestes gedichtet (Nauck p. 382 nr. 395; Wilamowitz, Anal. Eurip., Berl. 1875, p. 153). Aber auch noch von anderen griechischen Dichtern finden wir Stücke des Namens „Thyestes" erwähnt. Bei den Römern hatten drei Dichter das Thema bearbeitet, Ennius in seinem Thyestes" (Ribbeck, Die röm. Trag., Leipz. 1875, p. 199), Accius in seinem „Atreus", aus dem die berühmten Worte oderint dum metuant stammen (Ribbeck, Die röm. Trag. p. 449; Tragic. Rom. fragm.3 p. 187), endlich L. Varius in seinem viel bewunderten Thyestes (2. T. 1 H. § 267). Dass die letzte Tragödie von Seneca positiv oder negativ berücksichtigt werden musste, ist nicht zu bezweifeln (Fr. Strauss, De ratione etc. p. 58-77).

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Die politischen Maximen des Stückes verfolgt genauer Ranke, Abh. und Vers. p. 38: Man wird daran erinnert, dass in diesen Zeiten in Rom sich die Frage erhob, ob es zwei Oberhäupter der höchsten Gewalt geben könne Cajus und Gemellus, Nero und Britannicus".

Analyse bei Lessing (4 p. 269 Lachm.); K. Schulte, Bem. zur Senecatrag., Rheine 1886; Ribbeck, Gesch. der röm. Dicht. 3 p. 62.

Uebers. Eine Jugendarbeit Uhlands, wahrscheinlich aus dem J. 1802, ist eine Uebersetzung des Thyestes, welche A. v. Keller (Uhland als Dramatiker) publizierte und zu welcher Düntzer (Vierteljahrschrift für Litteraturgesch. 6 (1893) p. 308) Nachträge gab.

377. Hercules (Oetaeus). Die Handlung geht in Trachin vor sich, nur für den Prolog und das erste Chorlied muss als Ort Oichalia angesetzt werden. Im Prolog rühmt Hercules seine Thaten und gibt seinem Begleiter Lichas den Befehl, die Besiegung des Eurytus nach Hause zu melden. Es tritt dann die gefangene Jole auf, die Tochter des Eurytus, welche in einem Lied ihr Schicksal beklagt. Sie wird der Anlass zu der Katastrophe, welche uns das Stück schildert. Die Anwesenheit der schönen Gefangenen erregt in der Gattin des Hercules, Deianira, die höchste Eifersucht; in einem Gespräche zwischen ihr und der Amme malt uns der Dichter bis zur Ermüdung die Wirkungen der Leidenschaft. Deianira sinnt aus Rache auf den Tod des Gatten, schliesslich fällt ihr ein, dass sie im Besitz eines Zaubermittels sei, das ihr die verlorene Liebe des Helden zurückgeben könne. Sie hat ja das vergiftete Blut des Centauren Nessus und braucht mit demselben nur ein für Hercules bestimmtes Gewand zu bestreichen, und Hercules muss sie so hatte ihr einst der Centaur geweissagt wieder lieben. Sofort wird ein Kleid nach dieser Anweisung hergerichtet und dem Hercules durch Lichas übersandt. Kaum ist dies. geschehen, so durchziehen bange Ahnungen die Seele der Deianira, es kommt ihr der Gedanke, dass ein Racheplan des von Hercules getöteten

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Handbuch der klass. Altertumswissenschaft. VIII, 2, 2. 2, Aufl.

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Nessus im Spiel sein könne. Eine Probe zeigt, dass die Wolle, die mit dem Gift bestrichen war, in der Sonne hinschwand. Ihre Ahnungen erhalten nur zu bald ihre Bestätigung. Hyllus, der Sohn der Deianira, erscheint und berichtet, dass das Gewand über Hercules verheerende Schmerzen verbreitet, und dass er in seiner Wut den Überbringer Lichas getötet hat. Deianira gibt ihren Entschluss zu sterben kund. Als sie sich entfernt, naht Hercules selbst. Den von furchtbaren Schmerzen gepeinigten Sohn sucht die bekümmerte Mutter Alcmene zu trösten. Da meldet Hyllus, dass Deianira in den Tod gegangen, und klärt zugleich den Vater auf, dass kein Verbrechen der Mutter, sondern eine Rache des Nessus vorliege. Hercules erkennt, dass sich jetzt ein dunkler Orakelspruch erfüllt habe (Vs. 1476), und befiehlt, einen Scheiterhaufen auf dem Öta zu errichten, auf dem er sterben will; dem Hyllus trägt er auf, die Jole zur Frau zu nehmen. Der Wunsch des Alciden wird erfüllt, er wird fortgebracht, ein Bote erzählt, wie Hercules auf dem Scheiterhaufen geendet. Alcmene wehklagt über den Tod des Helden, Hyllus spricht ihr beruhigende Worte zu, aber den reichsten Trost spendet ihr der heimgegangene Sohn selbst er verkündet, dass er in der Sternenwelt verweilt.

Echtheitsfrage. Schon äusserlich hebt sich der Hercules (Oetaeus) durch seine ungebührliche Länge von allen übrigen Stücken ab. Auch der Wechsel der Scenen und des Chors erregt unser Befremden. Es kommen hiezu Nachahmungen, Geschmacklosigkeiten, lästige Wiederholungen, einige metrische Diskrepanzen, sprachliche Verschiedenheiten. Mit Entschiedenheit hat bereits D. Heinsius das Stück dem Seneca abgesprochen. In unseren Tagen trat der Frage G. Richter (De Seneca tragoediarum auctore, Bonn 1862) näher und hielt ebenfalls das Stück für unecht (p. 31): quoniam tot tantaque inter hanc fabulam et ceteras in re metrica et prosodiaca, in dicendi genere, in arte dramatica intercedere vidimus discrimina". Andere Gelehrte vertreten den Standpunkt der teilweisen Unechtheit; so hat Habrucker (Quaest. Ann., Königsberg 1873, p. 47) vermutet, dass der Anfang (1-232) und das Ende von Vs. 1691 an von fremder Hand hinzugefügt sei. Anders urteilt F. Leo; er nimmt als Werk des Seneca nur den Anfang bis Vs. 705 an, von der Auffassung ausgehend (Ausg. 1 p. 74), dass: integram de Herculis morte tragoediam scribere S. in mente non habuit; singulas scaenas scripsit, alteram de virginibus ex Oechalia abductis, alteram de Deianirae zelotypia". (Tachau, Philol. 46 (1888) p. 378 hält auch Vs. 104-172 für unecht.) Allein auch gegen die Athetierung des zweiten Teils haben sich in neuerer Zeit Stimmen erhoben; Ribbeck (Gesch. der röm. Dicht. 3 p. 69) meint, dass die Gleichheit des Stils uns zwinge, eine Verschiedenheit der Verfasser in dem Stück aufzugeben; auch Hosius, Lucanus und Seneca (Fleckeis. Jahrb. 145 (1892) p. 351) schliesst daraus, dass neben dem ersten auch der zweite Teil von Lucan nachgeahmt sei, auf Echtheit des letzteren; über die Nachahmung auch des zweiten Teils des Hercules Oetaeus in der Octavia vgl. Nordmeyer, De Octaviae fabula (Fleckeis. Jahrb. Supplementbd. 19 (1893) S. 286); vgl. auch die These 1 von Mich. Müller, In Sen. trag. quaest. crit., Berl. Diss. 1898. Die Unechtheit des ganzen Stücks hält aufrecht Birt, Rhein. Mus. 34 (1879) p. 509, die Echtheit Melzer, De Hercule Oet. Annaeano, Chemnitz 1890 und A. Steinberger, Hercules Oetaeus fabula num sit a Seneca scripta (Abh. für W. v. Christ, München 1891, p. 188). Das Original. In der Bearbeitung der Sage richtet sich Seneca nach den Trachinierinnen des Sophokles, aber doch mit einschneidenden Abweichungen. Die wichtigste ist, dass die Handlung über den Rahmen des sophokleischen Stückes hinaus geführt und auch die Apotheose des Hercules noch der Handlung einverleibt wird. In dem letzten Teil führt der Dichter auch eine neue, aber unglückliche Figur ein, die Mutter des Hercules, Alcmene, deren Aufgabe ist, zu trösten und zu jammern. Die zweite wesentliche Aenderung im Aufbau zeigt sich im Eingang des Stückes. Während bei Sophokles Deianira die Handlung eröffnet und das Schwergewicht auf die allmähliche Entwickelung der Eifersucht fällt, ist der Eingang der römischen Tragödie ein ganz unorganisches Gebilde. Zuerst spricht Hercules prahlerisch von seinen Thaten, es muss daher hier ein anderer Ort der Handlung angesetzt werden als später; dann ist auch Jole redend eingeführt; endlich ist Deianira von Anfang an das von Eifersucht gepeinigte, auf Rache sinnende Weib.

Litteratur. R. Grimm, Herc. Oet. in seinen Beziehungen zu Sophokles' Trachinierinnen, Petersb. 1876. Analyse bei Ribbeck, Gesch. der röm. Dicht. 3 p. 67.

378. Charakteristik der Tragödien Senecas. Die römische Tragödie war lange nichts anderes als eine freie Bearbeitung griechischer Stücke. Zwar tauchte auch hier wie in der Komödie der Versuch auf, zur Selbständigkeit vorzudringen, er führte bekanntlich zur Prätexta; allein tiefere Wurzeln scheint diese Spielart nicht geschlagen zu haben, der Sinn der Römer war für das Tragische weit weniger empfänglich als für das Komische. Im wesentlichen blieb es daher in der ganzen republikanischen Zeit bei der Übertragung griechischer Originale. Der Tragödiendichter wollte in der Regel nichts anderes sein als der Dolmetsch des griechischen, er betrachtete als seine Aufgabe, das fremde Original seinen Landsleuten zugänglich zu machen; nahm er auch hie und da Änderungen vor, sein Werk sollte trotzdem Kopie, nicht Original sein. Die Stellung des Dichters zu den tragischen Stoffen der Griechen wurde eine völlig verschiedene, als in der Kaiserzeit die Rhetorik sich auch der tragischen Dichtung bemächtigte. Dieses Eindringen der Rhetorik in die Tragödie lag nahe genug. Die Stoffe für die Deklamationen wurden ja vielfach aus der griechischen Sage entnommen, und die Heroide war oft nur die pathetische Schilderung einer bestimmten Situation aus einer Tragödie in Briefform. Ein kleiner Schritt, und man kam zur Bearbeitung einzelner Scenen, besonders solcher, welche zur Entfaltung des Pathos Gelegenheit darzubieten schienen. In den Phoenissen Senecas haben wir, wie wir sahen, eine solche rhetorische Composition einiger Scenen. Endlich wurden auch ganze Stücke in der neuen Manier gestaltet. Wir werden nicht irren, wenn wir die am meisten bewunderten Tragödien der ersten Kaiserzeit, die Medea Ovids und den Thyestes des Varius, als glänzende Muster der rhetorischen Poesie betrachten. Mit den alten Tragödien haben die neuen gemein, dass sie an Stoffe herantreten, welche bereits griechische Dichter behandelt haben; allein sie unterscheiden sich von jenen, dass sie keine Kopie mehr sein wollen, sondern eine Neuschöpfung, und dass sie sich in der Kunstform an die jüngere hellenistische Tragödie halten.1) Es ist richtig, dass der Sagenstoff, wenn er durch einen griechischen Dichter allgemeine Geltung erhalten, in den wesentlichen Zügen beibehalten werden musste, dass sonach nicht in der Erfindung eines neuen Stoffes der Schwerpunkt der veränderten Richtung liegen konnte; allein immerhin blieb noch ein grosses Feld übrig, auf dem sich die Originalität des Dichters bethätigen konnte, 2) wie dies ja auch moderne Meister in vielbewunderten, antike Stoffe darstellenden Werken gezeigt haben. Solche Originale sind auch die Tragödien Senecas; und es ist anziehend, näher zu verfolgen, worin und wie sich diese Originalität äussert. Vor allem prägt der Dichter seine Individualität aus; das, was sein Inneres bewegt, klingt durch

1) Diesen Gesichtspunkt hat besonders F. Leo, Die Composition der Chorlieder Senecas (Rhein. Mus. 52 (1897) p. 509) betont. Als charakteristische Unterschiede der neuen Tragödie hebt Leo (p. 510) hervor: „Die Verstümmelungen und Aufblasungen, die Ersetzung des Dialogs durch Prunkreden, der Charaktere durch Typen, des Ethos durch

Affekt, der Handlung durch Momente, des
Geistes durch Witz."

2) Das Streben, das Original zu verbessern, brachte manche dramatische Störungen mit sich; vgl. Lindskog, Studien zum antiken Drama II p. 7 f. Ueber die Gestaltung des Prologs, der auf die xaraorgogý hinweist, vgl. denselben p. 18.

diese Stücke hindurch. Besonders der schattenhafte Chor, der mit der Handlung und den auftretenden Personen nur in lockerem Zusammenhange steht und vornehmlich die Aufgabe hat, die Akte durch Zwischenlieder zu markieren,1) gibt ihm Anlass, sich über die allgemeinen Fragen des Seins, meist in stoischem Sinn, auszusprechen; doch legt er auch seinen Personen nicht selten philosophische Sätze in den Mund. Da werden Probleme erörtert oder gestreift wie das Fatum (Oedip. 980), der Weltuntergang (Thyest. 827), der Tod (Troad. 392), der Selbstmord (Phoeniss. 151 fg.), das Glück des leidenschaftslosen, von Ehrgeiz freien Mannes (Thyest. 342). Auch politische Diskussionen werden geführt; so wird die Frage aufgeworfen, ob man die Herrschaft auf Liebe oder auf Furcht gründen soll, wir hören den Satz, dass niemand ein gewaltsames Regiment lange erträgt, und dass nur dem massvollen längere Dauer beschieden ist. 2) An einer anderen Stelles) heisst es dagegen:

Regieren will nicht, wer vor Hass sich fürchtet:

Gott, der das All erschuf, hat zugesellt

Den Hass dem Throne.

Im Thyestes spricht Atreus die Grundsätze seiner Regierung aus; er vertritt einen schroffen Standpunkt, er verlangt, dass das Volk unter allen Umständen den Handlungen seines Herrn Beifall spende, ja er geht sogar so weit, zu behaupten, dass es unmöglich sei, durchweg mit ehrlichen Mitteln zu regieren (214). Ihm gegenüber nimmt der Satelles den Standpunkt der Mässigung ein. Oft ergeben sich, wie bereits erwähnt, zu den in den Tragödien entwickelten Sätzen schlagende Parallelen aus den philosophischen Schriften, ein Beweis, dass der Philosoph Seneca und der Tragiker Seneca dieselbe Person sind. Auch in der Form, in der die philosophischen Axiome vorgebracht werden, zeigt sich die Verwandtschaft, hier wie dort finden wir die epigrammatisch zugespitzten Sentenzen in reicher Fülle.4) Noch mehr enthüllt sich das eigene Wesen des Autors in der dichterischen Composition. Der griechische Dichter wurde nur geleitet durch die Rücksichten auf das Schöne, das sich in stiller Grösse durch sein Werk entfalten sollte; der Römer wollte einen Effekt erzielen und zwar mit den Mitteln, welche ihm der rhetorische Unterricht an die Hand gegeben. Dort hatte er gelernt, farbenreiche Beschreibungen hinzuwerfen,5) die verschiedenen Affekte kunstvoll zu zeichnen, die für die jeweiligen Stimmungen passende Situation in schlagender Weise vorzuführen; nicht aber hatte er dort gelernt die Versenkung in einen werdenden Charakter, die zarte Motivierung der verschiedenen Handlungen, die stufenmässige Entwickelung eines tragischen Stoffes. Mehr als Rhetor

1) Ribbeck, Gesch. der röm. Dicht. 3 p. 77; F. Leo, 1. c. p. 511; Michaut, Le génie latin, Paris 1900; Lindskog, Studien zum antiken Drama II p. 32, der zugleich (p. 43) bemerkt, dass der Chor an dem Dialoge nur dann teilnimmt, wenn sich nicht mehr als eine Person auf der Bühne befindet".

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2) Troad. 258: violenta nemo imperia continuit diu, | moderata durant.

3) Phoen. 654: regnare non vult, esse qui invisus timet: | simul ista mundi conditor posuit deus, odium atque regnum.

4) F. Kunz, Sentenzen in Senecas Tragödien, Wiener Neustadt 1897.

5) So war die Schilderung des Seesturms und Schiffbruchs ein beliebtes rhetorisches Muster. Seneca gibt eine solche im Agamemnon; vgl. Ribbeck, Gesch. der röm. Dicht. 3 p. 74.

denn als Dichter tritt er an seine griechischen Muster heran. Er braucht vor allem Reden, die dramatische Bewegung steht ihm daher erst in zweiter Linie; er braucht spannende Scenen, sein Blick ist daher weniger auf die Verbindung der Teile zu einem abgerundeten Ganzen gerichtet; er muss starke Töne anschlagen, wenn er die abgestumpften Nerven seines Publikums erregen will, das Geheimnis der Harmonie, das mit so wohlthuender Wärme aus den griechischen Schöpfungen herausleuchtet, ist ihm versagt. Der am meisten in die Augen springende Grundzug dieser Stücke ist daher das Masslose, das Forcierte, das Pathetische. Beispiele für das Gesagte finden sich allenthalben in diesen Tragödien, und wir haben auf verschiedenes hieher Gehörige bereits in den Analysen aufmerksam gemacht. Um eine schauerliche Beschreibung der Unterwelt anbringen zu können, tritt Theseus mit Hercules zugleich auf, und während dieser zur Züchtigung des Lycus schreitet, finden die Anwesenden die Geduld, der Erzählung aufmerksam zuzuhören. Die Totenbeschwörung des Tiresias und die Giftmischereien der Medea werden zu ganzen Scenen ausgestaltet, da hier der Dichter die erwünschte Gelegenheit fand, durch Darstellung des Grässlichen zu betäuben. Auch sonst scheut er sich nicht, Dinge, vor welchen der zarte Sinn der Griechen sich abgewendet hat, offen darzulegen. Er lässt die Jokaste nochmals mit dem geblendeten Oedipus zusammentreffen, er lässt die Phaedra selbst dem Theseus ihre Schuld gestehen, er lässt die Medea die Kinder vor unseren Augen hinschlachten, er lässt Hercules' wahnsinnige Thaten öffentlich vor sich gehen; alles dies zu dem Zwecke, um pikante, grause Scenen zu erhalten. Die Charaktere werden durch das Pathos, durch die stete Steigerung der Affekte stark vergröbert. Seine Deianira gebärdet sich infolge ihrer Eifersucht wie wahnsinnig, auch bei Medea versteigt sich die Leidenschaft ins Ungemessene und Wilde, die uns aus der griechischen Tragödie so sympathisch gewordene Antigone tritt bei ihm als eine redegewandte Sophistin auf, Phaedras Schuld wird losgelöst von der göttlichen Einwirkung der Venus und dadurch verstärkt. Was aber am meisten diese Tragödien von den griechischen trennt, ist die überall sich breit machende Rhetorik;1) deklamiert wird bei dem Römer ausserordentlich viel, und die Deklamafionen zeigen ganz die Vorzüge, aber auch die Gebrechen der Beredsamkeit jener Tage. Sie sind lebhaft, geistreich, scharfsinnig, blühend, aber auch affektiert, überladen, spitzfindig und unnatürlich. Auch im Versbau verrät sich trotz der gefeilten Technik im Einzelnen ein Sinken des guten Geschmacks; dies zeigen besonders die lyrischen Partien. Es fehlt dem Dichter der Sinn für das Ganze und die Harmonie; die Elemente sind nicht zu Einheiten verbunden, und Willkür treibt ihr loses Spiel. Die spätere griechische Tragödie wird auch hier ihren verderblichen Einfluss. ausgeübt haben.

Es ist eine alte Streitfrage, ob die Tragödien Senecas zur Aufführung bestimmt waren. 2) Untersucht man dieselben vorurteilsfrei, so wird man

1) R. M. Smith, De arte rhetorica in L. A. Senecae tragoediis perspicua, Leipz. 1885. 2) G. Boissier, Les tragédies de Sénèque

ont-elles été représentées?, Paris 1861; R. Peiper, Praefationis in Sen. trag. nuper editas supplementum, Breslau 1870

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