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Die naive Poesie

in unserer Zeit.

Von

Dr. Gustav Wittmer.

Cassel,

Verlag von Theodor Fischer

1868.

Lit 152014

1875, July 19. Subscription Friend.

Wer kennt nicht das Märchen vom Sneewittchen? Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab

Mitten im Winter, in dieser frostigen Zeit, kann man wohl das Schicksal der naiven Poesie mit dem der schönen Königstochter vergleichen, die, von einer bösen Stiefmutter verstossen und verfolgt, ihr Leben in stiller Abgeschiedenheit von Welt und Menschen hinbringen musste. Die Zeit selbst aber ist die böse Stiefmutter und Königin.

Hiermit ist angedeutet, wie wir die Stellung der naiven Poesie in unserer Zeit auffassen; die nachfolgenden Betrachtungen sollen die Gründe dieser Auffassung entwickeln. Bevor wir aber auf das Einzelne der Untersuchung eingehen, wollen wir in Kürze an den Unterschied zwischen den beiden Hauptarten der Poesie, der naiven und der sentimentalen, erinnern, und auch, damit wir minder ungerecht gegen die eigene Zeit erscheinen, uns die Frage vorlegen: wie weit die Menschheit überhaupt für Poesie empfänglich sei.

Ueber den ersten Punkt zu reden dürfte nach Schiller's Vorgang überflüssig scheinen, doch liegt es in

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Rücksicht auf die späteren Erörterungen nahe, die Berechtigung beider Dichtungsarten, zumal aber der naiven, von neuem hervorzuheben. Die betreffende Abhandlung unseres grossen Dichters wird hierbei als bekannt vorausgesetzt.

Von jeher unterschieden sich die Menschen dadurch wesentlich, dass die einen zufrieden waren mit der Welt, in die sie sich gestellt shen, die anderen aber nicht; jene fanden ihr volles Genüge inmitten der gegebenen Wirklichkeit und fügten sich willig den in ihr waltenden Gesetzen; diese dagegen wollten stets anderes, besseres, und lagen mit der Wirklichkeit im Streit. Dieser Doppelzug menschlicher Natur verleugnet sich nirgends, auf den niederen wie auf den höheren Stufen des Lebens finden wir ihn; und bewirkt er dort, getheilt, meist Gegensätze der Menschen unter sich, so tritt er hier nicht selten vereint in Einem Individuum auf, und lenkt es in zwei völlig von einander verschiedene Bahnen. Ihn zu bezeichnen giebt es keine schöneren als Goethe's Worte:

Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
Die eine will sich von der andern trennen;
Die eine hält, in derber Liebeslust,
Sich an die Welt mit klammernden Organen:
Die and're hebt gewaltsam sich vom Dust
Zu den Gefilden hoher Ahnen.

Natürlich wird er auch unter den Dichtern zu Tage treten, denn diese sind höchster Ausdruck, höchste moralische Potenz der menschlichen Natur, und sie werden sich also danach unterscheiden, ob sie die reale Welt schildern, oder ein Ideal. Doch auch bei ihnen kann ein und dasselbe Individuum beiden Strömungen zugänglich

sein; es ist alsdann ein solches vollkommener Ausdruck der Menschheit, ihm gebührt der höchste Preis. Denn losgetrennt von einander sind beide Richtungen gleich sehr einseitig, wie sie, verglichen mit einander, gleich sehr berechtigt scheinen.

Auch der naive Dichter ist zufrieden mit seiner Welt; er unterwirft sich der waltenden Nothwendigkeit in Ruhe und Klarheit, und da er dem Pessimismus zuneigt, so mag er von Perfectibilität der Menschen nicht viel hören. Die mangelhaften Erscheinungen des Lebens weiss er aus seinem reichen Innern glücklich zu ergänzen; er erwartet nichts anderes, besseres vom Leben, denn in sich selbst hat er genug. Viele Rosen, weiss er, bringt es nicht, aber er fürchtet auch seine Dornen nicht, weil er sie kennt, und er stirbt wie ein Fechter.

Ganz anders der sentimentale Dichter. Dieser ist unzufrieden mit der bestehenden Welt, die fort und fort im Widerspruch steht mit dem hohen Ideal, nach welchem er unablässig ringt. Er hofft auf Veredlung der Menschheit; die eigene Zeit ist seinem Ideal nicht reif, er lebt ,,ein Bürger derer, welche kommen werden," und darum ist er im ewigen Streit mit der Wirklichkeit, in der er wie ein tragischer Held strebt, leidet und fällt.

Wenn auch auf dem Gebiete der Dichtkunst jene Gegensätze minder schroff hervortreten, als hier angenommen wird, — denn in der dichterischen Begeisterung werden sie, die im Leben sich widersprechen, ausgeglichen oder doch in Einklang gehracht, wie Saiten, die vorher ausser Verhältniss zu einander vibrirten so machen sie sich doch immerhin auch hier geltend, und man kann

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